Samstag, 12. September 2015

Die Ärzte: Schrei nach Liebe



Zu diesem Song und der Aktion Arschloch muss man nichts mehr sagen. Sogar die Washington Post hat darüber berichtet, dass 22 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung der Anti-Nazi-Song Platz 1 der kommerziellen Singles-Charts in Deutschland erreicht. Man muss vermutlich auch nichts mehr darüber erzählen, wie bei Erstveröffentlichung die Plattenfirma Metronome zweifelte, ob es marketingtechnisch gut sei, diesen Song als ersten nach fünf Jahren Pause zu veröffentlichen ... Die Ärzte zeigten sich 1993 politisch und sind es 2015 genauso.

Spannend an der Aktion und deren Erfolg ist das, was sich als Effekt einstellt. Kaum beginnt die Welle der Download-Sympathie zu rollen und die ersten Medienberichte erscheinen, da zeigt sich die Politik in der Figur von Angela Merkel solidarisch und öffnet die Grenzen für in Ungarn wartende Flüchtlinge. Nicht unumstritten die Entscheidung, politisches Getöse vor allem aus Bayern, aber auch Überraschung und leichte Nachahmereffekte in Westeuropa.

Und innerhalb weniger Tage dreht sich auch im Medien- und Pop-Business die Stimmung radikal. Während es bis vor gut zwei Wochen nur wenige Ausnahmen waren, die sich eindeutig gegen Fremdenhass einsetzten – Roland Kaiser zum Beispiel in Dresden im Januar, Til Schweiger im Sommer – ist es jetzt schick und schon fast ein Muss, sich Anti-Nazi-Pro-Flüchtling zu positionieren. Joko & Klaas tun es genauso wie die nicht ganz einfache und früher durchaus mit Rechts liebäugelnde Band Frei.Wild. Ohne an dieser Stelle behaupten zu wollen, dass die Ärzte bzw. der Musiklehrer Gerhard Torges die Auslöser für diese öffentliche Solidaritätswelle waren – das waren Sie keineswegs - aber der massenweise Erfolg steht nunmehr als Zeichen für ganz viele andere Aktionen und Künstler*innen. Und irgendwie auch für ein politisches Deutschland. Eines, dass sich positioniert, sogar wenn es nicht ganz einfach ist und vielleicht auch das eine oder andere Problem ergibt.

Dass ein politisches Ereignis einen Nr.1-Hit fabriziert, das gab es zwar schonmal, aber auch nicht allzu oft. Enya mit Only Time war nach den Anschlägen vom 11. September 2001 der Titel, auf den sich alle einigen konnten. Und 1990 waren es die Scorpions mit Wind of Change, die eine politische Umwälzung an die Spitze der Hitparaden brachte. Na gut, im Dezember 2014 gab es auch Band Aid 30 und es gibt sicher noch einszweidrei andere Beispiel – Alltag ist es aber auf gar keinen Fall.

Im Gegenteil hatte sich gerade in den 2000ern eine unglaublich apolitische Feier- und Genusshaltung im Popbusiness durchgesetzt. Gesellschaftliche Themen oder überhaupt nur ein Interesse an irgend einem sozialen Fakt war viele Jahre fast schon No Go. Luxus, Drogen, Selbstverliebtheit, Katzenbilder und Blingbling – das war der Nenner auf den sich die erfolgreichen Acts und Produzenten verständigten. Erst in den vergangenen dreivier Jahren gab es wieder vereinzelte Anzeichen dafür, dass auch tiefgründigere Äußerungen ein größeres Publikum erreichen können.

Nun also ist diese Haltung sogar Nummer 1, damit irgendwie auch Konsens, natürlich mit all den Pop- und Verwässerungseffekten, die mit so einer Massenbewegung einhergehen. Wie offen und hilfsbereit sind all die Menschen, die den Song gerade kaufen. Würden Sie für die Unterstützung von flüchtenden Menschen auch auf einen Teil ihres Luxus verzichten? Und wenn es dann nicht nur die Kriegstraumatisierten sind, die nach Deutschland kommen, sondern vielleicht doch auch einige, die eher vor Armut und Hunger fliehen...?

Trotzdem: Irgendwie find ich diese Renaissance von Schrei nach Liebe nicht verkehrt. Sie macht mich sogar ein bisschen glücklich. Es gibt noch Anteilnahme und Solidarität. Die ewigen Schwarzseher haben nicht recht. Wahrscheinlich wird diese ungewöhnlich deutliche politische und gesellschaftsbewusste Haltung kein Dauerphänomen sein. Aber vielleicht wenigstens für ein paar Wochen. Das wär ja schonmal was.


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