Freitag, 1. November 2013

Milky Chance: Stolen Dance

Nachdem ich in den vergangenen Wochen hier ordentlich abgemeckert habe (aber dazu bin ich ja auch angetreten), muss ich mir heute vielleicht mal ein wenig Mühe geben und auch ein paar positive Dinge von mir geben. Das ist nicht ganz einfach, aber doch, bei Milky Chance geht das schon. Obwohl ich ganz ganz ehrlich zuallererst mal gedacht habe: ach Mensch, warum machen es sich diese jungen Menschen heutzutage nur so schwer? Was ist passiert, dass sie alle so weltfremd melancholisch umher rennen, sich irgendwie fremd fühlen und gar nicht recht das Leben genießen können? - Und dann versuche ich mich zu erinnern, wie das damals war, als ich so gerade mal 17 oder 18 war und .... huch, ich war ja genauso: verträumt, irgendwie desillusioniert und immer in dem Gefühl, ganz allein zu sein, niemand versteht mich - naja vielleicht eine einzige Person, aber die zu finden wird richtig richtig schwierig. Romantiker pur!

Und dieses Lebensgefühl beherrscht also eine ganze Menge junger Menschen auch im Jahr 2013. Und noch mehr Menschen (auch ältere) finden das, was daraus entsteht schön. Leben wir also in einer neuen Romantik-Hochsaison?

Wenn wir uns mal die erfolgreichen Hits der letzten Monate anschauen, dann fällt schon ein ordentlicher Hang zu romantischen Weltsichten auf: Klingande, James Blunt, Passenger, Lana del Rey die Country- und Folk-Welle. Romantik hier vor allem begriffen als der Gegenentwurf zur Realität. Der Wunschtraum, der Glücksmoment, das schöne Gefühl, es soll festgehalten und konserviert werden. Hier soll sich nichts ändern, denn jede Veränderung bedroht nur den IST-Zustand oder eben den Traum.

Im 19. Jahrhundert, da war die Romantik zu verstehen als eine Reaktion auf das immer schneller werdende Leben, auf die Industrialisierung und Mechanisierung des Lebens. Die deutlichen Veränderungen brachten einen Verlust des Bekannten und Vertrauten. Das Zuhause, die Heimat schienen gefährdet oder gar verloren. Diese Erfahrung und die starren herrschenden Formen ließen eine Reihe von Künstlern nach einem Ausweg suchen: in der ungebändigten Natur, der einmaligen, unverfälschten Liebe, dem Gefühl als einzigem Barometer für Echtheit und Wahrheit. Es war auch die Zeit der sich beginnenden Individualisierung der Gesellschaft. Goethe's Werther als der an der Wirklichkeit Zerbrechende, denn für seine unkonventionelle, individuelle Zuneigung gibt es keine Chance.

Auch heute wird die Welt immer schneller, immer technisierter, immer unübersichtlicher. Im Grunde ist es also kein Wunder, dass die Menschen auf dieser Welt mit einer romantischen Sicht darauf reagieren. Anders aber als vor 200 Jahren sind die Stilmittel heute alles andere als neu oder besonders individuell. Damals erfanden die Überforderten eine neue Sprache, sie warfen Konventionen der Komposition und des Textens über Bord. Sie verunsicherten auch ganz gehörig die Gesellschaft. Selbst die New Romantics in den frühen 80ern zelebrierten mit ihrem eiskalten Synthie-Pop eine neue Ästhetik. Heute ist das, was Klingande oder James Morrison oder Passenger in Reaktion auf den sie überfordernden Alltag anbieten eher altbekannte Antworte und Verweise. Sie kuscheln sich ein in Erinnerungen an eine Welt wie sie mal war. Ich könnte mir vorstellen, dass das nicht wirklich zu neuen Ergebnissen führt oder besonders viel bewirkt. Die Entwicklung lässt sich vermutlich nicht mehr zurück drehen.

Und nun komme ich doch dazu, die beiden Jungs von Milky Chance zu kritisieren. Denn auch ihr Sound ist wirklich seit gut anderthalb Jahren gehörig massenkonform: Wankelmut, andhim, in gewisser Weise auch Klingande oder Klangkarussell machen genau dasselbe. Und klingen auch noch ganz ganz ähnlich. Das ist natürlich alles nicht schlimm. Wenn dieser soft tuckernde, elektronische Wohlfühlsound gerade das Lebensgefühl vieler Menschen repräsentiert, nun, dann soll er auch benutzt und eingesetzt werden. Ich kann glaub' ich noch ganz gut drauf. Aber sicher nicht mehr lange.

Also genießen wir so lang es noch geht diesen Song. Denn das was er uns anbietet ist nicht nur schön und romantisch in Höchstform. Es ist im Gegensatz zumindest zu Klingande und Sonnentanz auch wesentlich zeitgemäßer und moderner. Sicher, Video-Überblendungen sind seit Lana del Rey auch ein ganz ordentlich akzeptiertes Stilmittel, aber immerhin visualisieren sie damit auch die Flüchtigkeit und Vielschichtigkeit von Erinnerungen. Den peinlichen Affenbrotbaum im Video - den muss man ja nicht unbedingt anschauen. Vielleicht ist ja auch genau das das Neue an Milky Chance: sie haben nicht mal Angst vor biederer Sentimentalität.

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